Die Provenienzforschung (also die Recherche nach dem Herkommen und den Vorbesitzer*innen von Büchern und Büchersammlungen) ist ein zentraler Teil der bibliotheks- und buchwissenschaftlichen Arbeit. Die systematische Erfassung von Provenienzen eine vergleichsweise junge Disziplin und dient insbesondere der Auffindung und Restitution von NS-Raubgut. Annotationen, Einbände, Stempel und Exlibris liefern darüber hinaus wichtiges Erkenntnismaterial für Forschende der Geisteswissenschaften.
Die zwei „Richtungen“ der Provenienzrecherche
Je nachdem, ob die Provenienzrecherche mit dem Exemplar beginnt, dessen vormalige Besitzer*innen festgestellt werden sollen, oder ob die Recherche von einer bestimmten Person oder Institution ausgeht, deren Büchersammlung verkauft, verschenkt, geraubt oder beschlagnahmt wurde, kommen andere Methoden zum Einsatz. Dieser Beitrag widmet sich der zweiten Variante der Provenienzforschung, deren Ziel es ist, den aktuellen Aufbewahrungsort bestimmter Exemplare zu ermitteln. Wichtig ist dies v.a. für Personen, die nach den (möglicherweise beschlagnahmten) Besitztümern ihrer Vorfahren recherchieren, und für Forschende, die sich mit der Rezeption oder der Materialität der gesuchten Exemplare befassen möchten. Bei Recherchen dieser Art besteht die größte Herausforderung darin, die wahrscheinlichsten Anlaufstellen für die Recherche zu ermitteln.
Katalogrecherchen
Viele übergreifende Altbestandskataloge oder Verbundkataloge können Sie direkt auf Vorbesitzer*innen von Büchern absuchen. Doch da die Provenienzerschließung in Bibliotheken mit sehr unterschiedlicher Intensivität erfolgt, haben Negativergebnisse keinerlei Aussagekraft für Ihre Recherche. Insbesondere bei langjährigen Forschungsvorhaben lohnt es sich, die Katalogrecherchen nach einiger Zeit zu wiederholen.
Wenn Sie eines der von Ihnen gesuchten Exemplare via Bibliothekskatalog ermitteln können, sollten Sie die Recherche in der besitzenden Bibliothek vertiefen: Es ist möglich, dass dort noch andere Werke gleicher Provenienz vorhanden sind, die bislang nicht katalogisiert wurden. Darüber hinaus kann ein Buchexemplar wichtige Hinweise zu weiteren Erkennungsmerkmalen und vormaligen Aufbewahrungsorten liefern.
Bibliotheksübergreifende Datenbanken, in denen Provenienzen recherchierbar sind
- Die Material Evidence in Incunabula-Datenbank (MEI) verzeichnet exemplarspezifische Beschreibungen und Provenienzen von Inkunabeln.
- Der Gesamtkatalog der Wiegendrucke enthält seinerseits zahlreiche Hinweise auf Exemplarspezifika.
- Die Heritage of Printed Books Database bündelt die Bestände zahlreicher großer Altbestandsbibliotheken und ist auf „former owner (person / institution)“ hin absuchbar.
- VD17 – Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts: Der VD17 enthält Informationen zu Provenienzen und ist daraufhin absuchbar. VD16 und VD18 ermöglichen dies leider nicht.
- Looted Cultural Assets: Die Provenienzdatenbank Looted Cultural Assets ist ein 2016 gegründetes Gemeinschaftsprojekt von Bibliotheken, die sich in der Suche nach NS-Raubgut engagieren und versuchen, dieses an heutige Eigentümer*innen zurückzugeben. Jedes geprüfte Buch wird mit sämtlichen Provenienzmerkmalen in die Datenbank eingetragen, so dass auch nicht NS-bezogene Provenienzen dokumentiert werden.
- GVK – Gemeinsamer Verbundkatalog: Verzeichnet Provenienzen aus Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
- hebis-Verbundkatalog: Verzeichnet Provenienzen aus der Region Rhein-Hessen.
Recherchemöglichkeiten abseits von Katalogen
Kenntnis von Bibliotheksgeschichte als Schlüssel zur Provenienzforschung
Wenn ein Exemplar erst einmal gefunden ist, lässt sich der Weg des Buches an seinen Bibliotheksstempeln oft gut nachverfolgen. Das obige Exemplar stammt ursprünglich aus dem Besitz von Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (Stempel „F.W.K.P.v.P.“), gelangte in die Königliche Hausbibliothek der Hohenzollern (Stempel darunter) und wurde dann dem königlichen Gymnasium zu Schöneberg-Berlin überlassen (Stempel links daneben). Von dort gelangte es in die Freie Universität zu Berlin.
Das Beispiel verdeutlicht die Wichtigkeit von Bibliotheksgeschichte für die Provenienzrecherche. Genau wie bei einer archivalischen Recherche muss der Weg eines Exemplars durch verschiedenste Institutionen bis zu seinem jetzigen Aufbewahrungsort nachverfolgt werden. Folgende Fragen dienen der Orientierung:
- Wo ist der letzte bekannte Standort der Bücher? Gibt es Biographien, Archivalien, Leichenpredigten oder Auktionskataloge, die darüber Auskunft geben?
- Welche Institutionen haben die Bestände dieser oder jener Fürsten- bzw. Gelehrtenbibliothek übernommen?
- Welcher Universitätsbibliothek wurden Bestände möglicherweise verkauft oder überlassen?
- Welche NS-Institutionen waren in der betreffenden Region für die Beschlagnahmung jüdischer Besitztümer verantwortlich und an welche Bibliotheken wurden sie weitergegeben?
Im Idealfall erarbeiten Sie sich über diese und andere Fragen eine Liste der Bibliotheken, die am ehesten als Aufbewahrungsort für die gesuchten Exemplare infrage kommen. Für die erste Orientierung empfiehlt sich dann ein Blick in Bernhard Fabians „Handbuch der historischen Buchbestände“, das die Bibliotheksgeschichte verschiedenster Institutionen dokumentiert und vertiefende Literaturhinweise liefert.
Auch die Websites der infrage kommenden Institutionen geben wichtige Auskünfte. In den Beschreibungen der Historischen Sammlungen ist meistens vermerkt, welche großen Sammlungen das Haus beherbergt. Viele Bibliotheken verweisen auf Erwerbungsjournale und Kataloge, in denen der Bestandszuwachs ihrer Einrichtung dokumentiert wird. Einige Institutionen wie z.B. die UB der Humboldt Universität zu Berlin haben diese Journale bereits digitalisiert.
Wenn Sie auf ganz konkrete Hinweise auf Provenienzen im Bestand einer Bibliothek stoßen, lohnt sich die Kontaktaufnahme mit Kolleg*innen vor Ort. Diese verweisen Sie ggf. auf Zettelkataloge, Exlibris-Verzeichnisse sowie historische Akten und Bücherverzeichnisse, die für Ihre Fragestellung relevant sind. Es ist sinnvoll, einen bebilderten Steckbrief von maximal zwei Seiten anzufertigen, auf dem das bekannte Wissen über Provenienzmerkmale (Exlibris, Einbände, Stempel, Signaturen, Notationen usw.) und über die Geschichte des Bestandes (insbesondere deren letzter bekannter Standort) zusammengefasst ist. Dies ermöglicht den Kolleg*innen eine schnelle Orientierung und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie Ihnen weiterhelfen können.
Gründe für das Scheitern von Provenienzrecherchen
Nicht jede Provenienzrecherche ist erfolgreich. Das kann verschiedenste Ursachen haben:
- Privater Verkauf: Wenn die Bücher verauktioniert oder an den Antiquariatsbuchhandel verkauft wurden, ist es fast unmöglich, noch Exemplare wiederzufinden. Ausnahme: Sie finden das Exemplar des Auktionskatalogs in einer Bibliothek oder einer Büchersammlung. In der Regel waren die ersten Besitzer*innen der Kataloge auch selbst auf der Auktion anwesend und haben dort Erwerbungen getätigt. Die gesuchten Exemplare könnten also ganz in der Nähe sein.
- Unbenutzte Exemplare: Bücher, die keine Stempel, Annotationen und Signaturen aufweisen und deren Akzession auch in Akten unerwähnt bleibt, gehen der Provenienzforschung in der Regel verloren.
- Kriegsverlust: Mit der Bombardierung von Städten im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche private und öffentliche Bibliotheken komplett zerstört. Andere Bestände wurden von Besatzungstruppen beschlagnahmt und ohne weitere Dokumentation umverteilt.
- Verschleierung: Die Herkunft beschlagnahmter oder geraubter Buchbestände blieb in zeitgenössischen Akten oft absichtlich unerwähnt. Alternativ wurden problematische Bestände über den Antiquariatsbuchhandel verkauft, von wo dann ein „legaler“ Weiterverkauf stattfand.
Rezeptionsspuren finden
In den Geisteswissenschaften zielen viele Fragestellungen nicht auf eine spezifische Provenienz ab, sondern auf die Rezeption eines Werkes durch die unmittelbaren Zeitgenossen. Forschende suchen nach Werken mit Namenseinträgen, umfassenden Annotationen und Unterstreichungen einer bestimmten und zunächst nur vage definierten Zielgruppe. Entsprechende Exemplare oder Digitalisate zu finden, ist nicht einfach. Zum einen verfügt kaum ein Katalog die Suchfunktion „enthält Annotationen“, zum anderen werden für Digitalisate meistens besonders makellose Exemplare ausgewählt, die gut lesbar sind und die automatische Texterkennung nicht behindern. Zuletzt lassen sich Annotationen oft nur schwer datieren oder gar einer Person zuordnen.
Tipp 1: Suchen Sie nach einem Werk Ihrer Wahl in einem Katalog, in dem Provenienzen recherchierbar sind. Setzen Sie im entsprechenden Feld ein Sternchen (*). Wenn der Katalog es zulässt, erhalten Sie eine Liste der Werke, für die beliebige Provenienzen bekannt sind und können auf dieser Basis weiter nach Annotationen suchen.
Tipp 2: Prüfen Sie, in welcher Bibliothek die auf Ihre Fragestellung bezogenen Werke besonders gut aufgestellt sind. Lesen Sie die Sammlungsbeschreibungen auf der Website. Fragen Sie die jeweiligen Sammlungsbeauftragten oder Fachreferent*innen, ob ihnen annotationsreiche Exemplare bekannt sind. Forschungsbibliotheken wie die Herzog August Bibliothek, das Ibero-Amerikanische Institut in Berlin oder die Forschungsbibliothek Gotha, vergeben sogar Stipendien, um die Beforschung Ihrer Bestände zu fördern.
Tipp 3: Benutzen Sie Metakataloge (Europeana, Deutsche Digitale Bibliothek, Google Books), deren Ergebnisanzeige Bilder enthält: Namenseinträge oder Notizen auf dem Titelblatt können darauf hinweisen, dass auch im Buch Annotationen enthalten sind. Umfassend annotierte Exemplare werden aber wie gesagt sehr selten digitalisiert, da sie die Lesbarkeit des Originaltextes behindern.
Literaturangaben und Datenbanken
Deutsche Bibliotheksgeschichte
- Fabian, Bernhard (2021): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa. Hg. v. Günter Kükenshöner und SUB Niedersächsische Staatsbibliothek Göttingen. Online verfügbar unter: https://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian [16.07.2021].
Hier finden Sie zu beinahe jeder Bibliothek und jeder Region bibliotheksgeschichtliche Literaturhinweise! - Alker-Windbichler, Stefan (2008): Bibliotheken in der NS-Zeit: Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte. Göttingen: V-&-R-Unipress [u.a.].
Auktionskataloge finden
- Book Sales Catalogues Online: Die Datenbank verzeichnet ca. 4.000 in der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen publizierte Auktionskataloge aus dem 16. bis frühen 19. Jahrhundert. Dank der Bemühungen des FID BBI und dem FID Benelux ist sie als Nationallizenz frei verfügbar.
Mehr Informationen: https://www.fid-bbi.de/blog/index.php/2021/02/09/neue-nationallizenz-book-sales-catalogues-online/ - Loh, Gerhard: Verzeichnis der Kataloge von Buchauktionen und Privatbibliotheken aus dem deutschsprachigen Raum. 1607-1823. 9 Bände. Leipzig 1995-2017.
Weitere Literatur
- Alker-Windbichler, Stefan and Bauer, Bruno and Stumpf, Markus (2017): NS-Provenienzforschung und Restitution an Bibliotheken. Berlin: de Gruyter Saur.
Auch für nicht die auf den Nationalsozialismus bezogene Provenienzforschung bildet das Werk einen sehr guten Leitfaden mit wertvollen Hinweisen zu Provenienzmerkmalen. - Preußische Staatsbibliothek, Berlin (2021): Handreichungen und Empfehlungen – Provenienzforschung. Online verfügbar unter https://provenienz.staatsbibliothek-berlin.de/ressourcen/handreichungen-und-empfehlungen/, [16.07.2021].
Eine – eher an Bibliothekar*innen gerichtete – Liste mit Informationen über die systematische Provenienzerfassung in Bibliotheksbeständen, die jedoch auch Forschenden wertvolle Hinweise liefert. - Buchempfehlungen zur NS Provenienzforschung und Restitution. Online verfügbar unter: https://www.lootedculturalassets.de/service/buecher/index.html [26.08.2021].
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